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W. Sztaba Eine Geschichte aus zwei Städten

 

 

Habiter la ville / Leben in der Stadt

 

Ein künstlerisch-literarisches Projekt zu den Partnerstädten
Karlsruhe — Nancy
Eric Didym, Jean-Edouard-Hasting

Markus Kiefer, Jacob Birken

 

Karlsruhe: Orgelfabrik Durlach, 22.10 – 6.11.2016
Nancy: Goethe Institut, 23.11.2016 – 31.1.2017

   
   
  Gott schuf Wald und Felder, der Mensch baute die Stadt.
   
 
 

Dieu créa la campagne, l'homme
bâtit la ville
/ Avec vue sur l'arbre
de la vie


Die nächtlichen Schatten der Stadt einfangen (Ausschnitt)
Aucune parole ne doit être la chienne d'aucun maître
(A. Llamas)
(Ausschnitt)

Ich wohne in der Stadt unter freiem Himmel, ohne ein Feuer, ohne einen Platz (Ausschnitt)

Die Spuren der Stadt (Ausschnitt)

Die Stadt ist mein Zuhause (Ausschnitt)


Die Stadt ist eine Insel (Ausschnitt)

Die Künstler sind anwesend in der Stadt, sie kehren ein, um das Bauwerk des Menschen zu begutachten und darüber zu berichten. Ihr Report über den Besuch, protokolliert in Bildern und Wörtern, wurde für kurze Zeit im Raum einer ehemaligen Orgelfabrik ausgestellt. Der Ort ist nicht ohne Bedeutung für dieses an Symbolen und Metaphern reiches Projekt. Man muss in dem suchen, was „flüchtig oder verborgen“ ist: in „Mitteilungen zwischen einzelnen Menschen, in Vorstellungen und Visionen, die eine Stadt in Raum und Zeit überschreiben, ergänzen oder ihrer Wirklichkeit ganz widersprechen.“ Die Stadt, worüber sie erzählen, ist zweifach, eine in Frankreich, eine in Deutschland, die besuchenden Künstler kommen von hier und drüben, eigentlich ist es unwichtig, woher die Gesandten kommen.
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Der Fotograf Eric Didym und der Schriftsteller Jean-Edouard Hasting haben ihren Report in Bildern mit Texten zusammengestellt. Die Fotos sind wie Tafeln an den Wänden des Fabrikraums hingestellt, sie erinnern an Standaufnahmen von Filmszenen, und die Texte an den unteren Bildrändern – an Film-Untertitel. Sie sind aufgeschrieben auf Schiefertafeln, oder, wenn die Fotos über Karlsruhe erzählen – auf Tablets.
Wir gewahren hier einen alten, teils vergessenen, fast feierlichen Ton. „Dieu créa la campagne, l'homme bâtit la ville (Gott Schuf Wald und Felder, der Mensch baute die Stadt)“ steht auf einer der Tafel. Die Künstler sind unterwegs, sie suchen nach Zeichen. Sie bemerken „einen Lebensbaum“, der in einem Hof wächst, ein junges Mädchen, die „voll der Stadt ist“ … Und sie ermahnen, dass „das Wort nicht einem Herrn dienen sollte“.
Auf den Tafeln werden Gedanken und Beobachtungen notiert, es ist leicht, sie abzuwischen, oder mit der „delete“-Taste zu löschen. Die Sätze sind leicht, poetisch, witzig, voller Ironie – man verspürt aber darunter eine Beunruhigung und Sorge. Hat der Mensch die Stadt richtig gebaut? „Die Stadt: ein versprochenes Land? In der Stadt leben, heißt das am richtigen Platz zu sein?“ Die Bilder des Berichts zeigen die Stadt, das Werk des Menschen, als ein unvollendetes Projekt: Sie hört plötzlich auf mitten in einem Niemandsland, an Un-Orten, in unfertigen oder zum Abriss bestimmten Bauten vom unbekannten Zweck, sie verliert sich im Labyrinth von Straßen, die nur Durchfahrten zwischen hohen Mauern sind. „Die topografischen Fallen der menschlichen Stadt.“ Und die Menschen in diesem Labyrinth, wo ist ihr Platz? „Die Stadt ist mein Zuhause“, sagt Einer, aber er verbirgt sein Gesicht hinter einem Tablet, und um ihn herum ist nur Glas und Beton. Ihre Empathie gleicht dem Interesse der Gaffer: „Bitte weiterfahren, hier gibt es nichts zu sehen. Das Netz verbindet. Das Netz verknüpft untereinander. Das Netz trennt.“ Ein Obdachloser sagt: „Ich wohne in der Stadt unter freiem Himmel, ohne ein Feuer, ohne einen Platz.“ Der andere Satz klingt dann ironisch: „Jedem sein eigenes Stadtleben.“
Sollte man die Stadt verbessern? Vielleicht eine Tabula rasa machen, vom Anfang an beginnen, alles abwischen, „delete“ drücken. „Einen Strich ziehen und seine Stadt neudenken.”
Aber wo anfangen? Man fängt mit der Suche nach Zeichen an, wiederholen die Künstler, man soll die Stadt, wie ein Buch, lesen. „Die Zukunft in den Linien der Stadt lesen … Die Spuren der Stadt in Graffitis erkennen Die Fenster sind die Spiegel der Stadt … Die nächtlichen Schatten der Stadt einfangen … In der Nacht zeichnen die Stadtlichter Konstellationen auf das Futter des Samts.“ Wo man die Zeichen sieht, dort beginnt die Poesie. Ist das die Antwort darauf, wie man die Stadt neudenken kann? Man soll poetisch auf der Erde leben, schrieb Hölderlin. Und so sagen auch die Bilder: „Als Dichter in der Stadt leben – Auf das Schiff Stadt aufsteigen – Wie ein Spatz den Steg überqueren – Seinen Platz in der Stadt schaffen – Einen Sinn in seiner Stadt finden“… Und – ein Bekenntnis zur Utopie: „Die Stadt ist eine Insel.“

 
 











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Wenn der Report mit einer Videokamera aufgezeichnet wird, dann bekommt jede Einstellung eine eigene Zeit und Stimme – das Geräusch der Stadt. Manchmal verwandeln sich die Stimmen in Schrift, sie kommentieren, stellen Fragen, wie Texte in Comicheften. Der Videokünstler Markus Kiefer inszeniert nichts, er wählt nur den Ort aus, stellt die Kamera auf das Stativ, und wartet. Die Aufnahmen sind still, die Kamera fängt, wie ins Netz, alles, was sich vor dem Objektiv ereignet. Jede dieser „Ansichtskarten“ dauert eine Minute, man könnte sie Schnappschüsse nennen, aber einer anderen Art, denn ihre Zeit wird nicht im Sekundenbruch, sondern im Vergleich zum ganzen Tag, oder Monat, oder Jahr berechnet. Das Bild hört nie auf, es setzt sich fort, es war schon vorher da, und es wird da sein, auch jetzt, in diesem Augenblick, am gleichen Ort, wenn weder wir noch die Kamera dort anwesend sind.
Wie in einer Dia-Show laufen die Bilder in einer Schleife, zwischen beiden Städten kommt die Nacht als natürlicher Montage-Schnitt. Es passiert nicht viel auf dem Bild während der Minute. Das Betrachten bedeutet hier die Teilnahme an der Anwesenheit der Stadt und ihrer Einwohner. Dann jede kleinste Veränderung wird wahrgenommen und wirkt wie eine Sensation …
Über den Himmel ziehen langsam die Wolken, auf der Straße fährt ein Lastwagen, bald kommt das grüne Licht für die Fußgänger … Das Bild ist eine Bühne, die die zufälligen Passanten betreten. Jemand telefoniert mit dem Handy, jemand wartet auf die Straßenbahn, jemand jagt Pokémons mit dem Smartphone. Man sieht Spielzeug auf einem Hof, man hört undeutlich Stimmen, Zeichen des Lebens der Anderen, Andeutungen von Ereignissen, von denen wir nichts wissen. Ein Schrebergarten inmitten von Stadtbauten, unter der Plane wachsen Tomaten, ein Mann tritt ein ins Bild mit einem Rasenmäher. Eine Bank im Park steht im Wasser, darauf sitzt eine Frau mit Kind, ein Bild, das seltsame Ruhe ausstrahlt. Eine lange Barke fährt langsam unter zwei Brücken. Eine große Figur von Antonius von Padua segnet vom Dach die Passanten. Ein Bild von moderner Architektur in Rot wird von einem Untertitel begleitet, der erst später, woanders, seine Bedeutung entfaltet: „Courage, mes amis, defendez-vous jusqu’a mort.“ Die Treppe – eine Frau geht hinunter, die andere geht gleich herauf, monter, descendre, wie in der ersten Französischstunde. Und der Bahnhof – man steht davor, oder schaut von oben, vom Steg aus, auf die ein- und abfahrenden Züge: „Je peux voir ta maison d’ici.“ In der Kathedrale, vor dem Altar, ist kurz ein Schriftzug sichtbar: „J’ai trouvé dieu!“, aber dann, auf dem Pult – drei Fragezeichen. Ein paar Bilder weiter erscheint Gott wieder auf einer Kinderzeichnung.
Die Kamera bewegt sich nur einmal und völlig überraschend im ganzen Film: Ein Wagon der Zahnradbahn, wo die Kamera steht, fährt plötzlich ab und das Bild bewegt sich und weitet sich immer mehr aus.

 
 






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Geschichten aus zwei Städten erzählt Jacob Birken in seinem Foto-Büchlein mit Mini-Essays unter dem Titel „Kleiner Atlas der Lebensformen“. Der Titel knüpft vielleicht an den Mnemosyne Atlas von Aby Warburg an und kündigt dadurch Texte an, die sich mit Symbolen und Bildmetaphern beschäftigen werden. Schon das Bild auf der Titelseite erinnert an barocke Embleme: Es zeigt zwei Engel über dem Eingang zur Kathedrale in Nancy. Sie sind mit einem Netz bedeckt, damit sich andere Flügelwesen nicht auf ihre Engelflügeln setzen können. Diese Engel sind vielleicht ein pars pro toto für das ganze Projekt, in dem die Künstler-Gesandten die Stadt besuchen (man wird sich an die Filme von Wim Wenders erinnern). Birken überfliegt mit Leichtigkeit die Geschichte und die Gegenwart beider Städte („Wie ein Spatz den Steg überqueren“), „wir können letzten Endes nicht anders“, schreibt er, „als auf Eindrücke zu vertrauen, auf flüchtige Vergleiche, Anekdoten, die eine Erinnerung wachrufen und vielleicht in der Phantasie zu einer gemeinsamen Geschichte zusammengesponnen werden können.“
Er findet in beiden Städten symbolstarke Orte, Sachen und Begebenheiten, die zu solch einer Geschichte beitragen könnten und erzählt sie mit Ironie und Gefühl für Paradoxien, aber auch mit Sympathie für ein romantisches, nicht von der Postmoderne bestimmtes Projekt der Welt- und Stadt.
Eine dieser Geschichten berichtet über das Schicksal des Sergent Blandan, der während der Kolonialkriege in Nord Afrika gefallen war. Sein Standbild mit auf dem Sockel angebrachten heldenhaften Worten: „Courage, mes amis, defendez-vous jusqu’a mort“, aufgestellt zuerst in Algerien, wurde dann nach Nancy gebracht. „Welchen Freunden soll die Statue heute noch Mut zureden?“ Jetzt bekommen wir auch die Erklärung für den rätselhaften Kommentar zum Videobild mit der roten Architektur:  „Ans Ende seiner Straße gerückt, scheint Sergent Blandan heute eine andere trotzige Linie ziehen zu wollen, wenn er sich auf seinem Sockel recht einsam einem Lindwurm aus buntem Glas entgegenstellt (…). Das ist das Artem, ein noch nicht fertiggestellter Neubau, der gleich drei Hochschulen Nancys beherbergen soll.“
Der letzte mini-Essay ist der Jugendstil-Architektur der Ècole de Nancy gewidmet – in Erinnerung an ein alternatives Projekt für das Leben in der Stadt und seine Formen („Einiges davon sollte besser früher als später wieder aktuell werden“). Die verspielten Gebäude stehen in der Stadt wie Botschaften aus einer anderen Welt, etwa aus der märchenhaften Mittelerde von Tolkiens „Herr der Ringe“. „Jugendstilgebäude wirken (…) nie alt sondern als wären sie gerade erst angekommen, als hätten sie sich aus einem anderen Zeit-Raum-Kontinuum hierher verlaufen. Ihrer Botschaft sollten wir dennoch zuhören, selbst wenn sie reichlich verquast und wunderlich formuliert ist.“

14. November 2016

 

Fotos © Eric Didym, Markus Kiefer, Jacob Birken und Wojciech Sztaba