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The Daniel Libeskind Research Studio

Über die Kunst, Kunst zu lehren

 

Ausstellungsansicht

Das Buch sieht aus wie eine Dokumentation einer Lehrveranstaltung – ist aber keine.

Gewidmet ist es den 8 Seminaren, die der Architekt Daniel Libeskind in den Jahren 1999 bis 2003 an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe mit Studierenden verschiedener Fachrichtungen abhielt. Der Aufbau des Buches ist einfach: Den kurzen Texten der Einführung (u.a. von Libeskind und Peter Sloterdijk) folgen die Seminare mit Titeln, die sich wie Überschriften eines Essays oder Katalogs einer Kunstausstellung lesen: Lines, Millennium, 1001 Space(s) of Encounter, Body Measurement Space Architecture, The Unoriginal.

Jedes Kapitel wird von einem Mosaik aus vielen kleinen Fotos eröffnet, die Workshop-Situationen zeigen. Fragmente des Vortrags ergänzen als kurze Zitate das Bild. Danach folgen die Literaturliste zum Seminar und der Text der Aufgabe. Und dann kommen die Antworten – die studentischen Arbeiten.

Vielleicht macht es die einladende Struktur des Layouts mit dem klaren Rhythmus von Bildern und Typografie, dass man aufmerksamer den elektrisierenden Worten, Fragmenten von Libeskinds Erzählungen über die Kunst und die Welt zuhört. Und schnell begreift man, dass das Buch eine seltene Gelegenheit bietet, an der Wiederaufnahme der alten Geschichte von „Meister und Schüler“ teilzunehmen.

Libeskind

Das Buch vermittelt die Auffassung Libeskinds von Kunstdidaktik. Die Worte, die er an die Studierenden richtet und die Formulierung der Aufgaben öffnen die Gedankengänge, statt dem Kopf ein „was-und-wie“ zu liefern. Er setzt die Poetik des Rätsels, der Metapher, des Aphorismus ein, macht die Texte zu Ideen- und Bildgeneratoren, die eine Atmosphäre schaffen, in der entfernte Assoziationen plötzlich zusammenfinden.

Auch die empfohlene Bücherliste, dieser Inbegriff der Methodik der akademischen Ausbildung, entzieht sich der Klassifizierung; sie greift quer durch die Gattungen, von Philosophie, über Dichtung, Literatur, wissenschaftlichen Abhandlungen bis zu Kinder- und Bilderbüchern. Jede dieser Listen, die den Auftakt zu den Seminaren bilden, ist wie eine symbolische Geste, die Kunst mit dem Geist bindet, nach dem breiten Gedanken verlangt, Vielfalt, Neugier, Offenheit und Großzügigkeit gegenüber eigener Entwicklung fördert, statt der engen Spezialisation und dem Pragmatismus der Berufsausbildung. Und – nicht zuletzt bedeuten die überraschenden Bücherlisten, dass das Wort nicht nur den Geist füllt, aber auch vom Überflüssigen befreit. And you know, sagt Libeskind, what school means? In Latin it means: free time.

Diese Strategie der Ideenvermittlung ist eigentlich die eines Zen-Meisters, der ein rätselhaftes Koan sagt, mit dem Finger auf etwas zeigt und dann laut lacht. „AND ... have fun.“, endet eine der Aufgabenbeschreibungen, und gewiss hat er nicht die Spaßgesellschaft gemeint.

Von diesen Koanen gibt es in dem Buch nur Spuren, und auch die Antworten der Adepten hinterlassen hier nur Spuren in Fotos und Bildern. Aber die Energie, die man noch beim Lesen des Buches empfindet, sie bleibt.

Das erste Seminar hieß „Linie”. In der Einführung wird an Le Corbusier erinnert, an seine Philosophie der Linie, an das Rätsel des Rechtecks: He wrote one really important book, called: La poéme de l’Ángle droit ... and at the end it tells you why the right angle is sacred.(…) It is hidden somewhere. Sometimes, it is not even visible. (...) every line you put when you draw ... it is not just line, it is everything. Dann sehen wir die Fotos aus dem Seminarraum. Eine Person bückt sich nach vorne, der Körper bildet ein Rechteck und plötzlich sehen wir in der ganzen Szene Linien, Pfade und Vektoren, die ein Spannungsfeld bauen. Die Aufgabe lautet: Create a new physical reality for a specific place in Karlsruhe, based on abstract and subjective exploration. Build something new at the original site that reflects what you have seen there. Und wenn man die studentischen Arbeiten genau betrachtet, erkennt man dort diese zwar ganz einfache, jedoch nach einem anderen Sehen verlangende Einführungsübung.

Im nächsten Seminar wird nach einer Allegorie für die platonische Höhle gesucht, eine Allegorie als gestalterische Aufgabe, wohl gemerkt! Denn der Raum, die Räume, wie Libeskind betont, sind nicht leer, sind nicht einfach Formen. Sie sind eins mit Menschen und Ideen, die dort verweilen, sie erscheinen als Begegnungen der Bewohner und der Dinge. Die Räume haben ein Gedächtnis, man nimmt sie in Worten und Bildern wahr.

In Endless Space(s), 1001 Space(s) of Encounter stellt Libeskind sein Konzept als eine metaphorische Text-Figur dar: Es ist eine Liste von Räumen, die durch ihre Eigenschaften definiert werden. Sie ist als ein Archiv-Katalog angelegt und bleibt somit für neue Einträge offen. Die Reihe wird durch Buchstaben unterbrochen, eine alphabetische Systematik wird angedeutet. Allerdings ist die Systematik, ihre Ordnung nur scheinbar, die Buchstaben stehen nur für sich selbst da, die Namen der Räume aber ignorieren die Schubladen des Katalogs, sie leben ihr eigentliches Leben außerhalb des Archivs: ... Chess space, Undone space, Duplicitous space, Time space, Sleeping space ... alle diese Bezeichnungen stehen in dem “Katalog” unter dem “E”! Jeder Name der Unendlichen Räume deutet einen potenziellen Raum an, der seine Form erst in der Vorstellungskraft des Lesers bekommt.

Die Antwort der Studierenden auf Libeskinds Liste war ein Buch in zwei Bänden mit rotem Einband, der erste Band mit leeren Seiten, ein Vacuum, eine tabula rasa, der zweite hingegen mit Bildern gefüllt. Jedes Bild steht für einen Raum, und sie alle bilden einen parallel zur Liste laufenden, gleichsam unendlichen Katalog. Oder ist das ganze Buch auch ein Gebäude? Mit Räumen, die man mit jedem Aufschlagen des Buches betritt?

In den folgenden Seminar-Begegnungen wurden aus Worten und Geschichten Räume konstruiert. Zuerst, so lautete die Aufgabe, schreiben die Teilnehmer eine kurze Geschichte, die sich aus vorgegebenen Worten heraus entwickelt. Alternativ sollten sie den Text des Ägyptischen Totenbuches verwenden. In beiden Fällen bildete die Literatur das Fundament für die Formsuche.
Man kann das Bekenntnis zu dem Geistigen in der Architektur (der Kunst) kaum deutlicher deklarieren. Am Anfang der Gestaltung ist das Wort und aus dem Wort entsteht der Raum.

Dieser Gedanke wird in den Seminarprojekten konkret, man sieht die Metamorphose des Wortes, das Wort-Raum-Werden. Die Übungen vermitteln eine Selbstverständlichkeit, mit der die jungen Künstler zwischen der Idee und dem Körper wandeln: Ein Wort wird zur Linie, die wird zur Fläche, entwickelt sich dann zum Faltblatt, das weiter feste Form annimmt, um sich am Ende im Schatten zu verlieren. Ich glaube, dass auch der Leser während der Lektüre immer leichter zwischen diesen Welten hin und her geht, jeder auf seinem Weg. Denn das „gelbe“ Buch ist im gewissen Sinne „interaktiv“. Es ist so, wie beim Lesen eines Buches im Zug; einmal legt man es ab, für einen Augenblick, weil man an etwas anderes gedacht hatte, oder möchte über das Gelesene, das die Gedanken woanders hingeführt hatte, nachdenken. Denn ein Buch hat, obwohl es kein Gebäude ist, doch verschiedene Türen und Fenster.

Schließlich kommt der seltsame Gedanke, dass vielleicht auch das Leben eine Architektur sei. Denn auch hier gibt es 1001 Räume: Zimmer, Höfe, Gänge, Übergänge, Korridore, Tunnel und andere Verbindungen zwischen den Räumen und Zeiten, Straßen, Plätzen, Feldern, es gibt dort den Bahnhof mit Transiträumen an Gleisen, mit dem Wartesaal und Zugabteilen – all das macht diesen Raum, den wir miteinander teilen, aus.

Deswegen ist das Buch über die Libeskind-Seminare keine einfache Dokumentation, sondern etwas wie ein virtuelles Gebäude in der Art der alten mnemotechnischen Theater, mit den an sich einander gereihten Zimmern, worin man die Dinge und Ideen ablegt, die des Erinnerns wert sind.

Hoffentlich finden sich viele aufmerksame Leser, die den Klang der gemeinsamen Sache zwischen den Teilnehmern dieser Seminare wahrnehmen werden.

Wojciech Sztaba

The Daniel Libeskind Research Studio / Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe,
Redaktion: Andreas Voigt, Sahar Aharoni, Jacob Birken, Adrian Krell, Jan Zappe,
Karlsruhe 2010

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