Impressum

W.Sztaba Die Fotoausstellung „Humanism in China“ in Stuttgart

Die Veranstalter betonen zwar, die Präsentation sei keine Kunstausstellung, aber ist das nicht ein typisch schwäbisches Understatement? Denn den gezeigten 600 Bildern wohnt viel Poesie inne, und das wissen die Veranstalter, die dieses „Nicht-Kunst-Etikett“ mit einer außerordentlich kunstvollen Fassung gleich wettmachen. Man steht in der Mitte des Raumes und schreckt vor der Bildermenge nicht zurück: klar und elegant gegliedert wirkt die Foto-Sammlung wie ein aufgeschlagenes Bilderbuch, in dem man ruhig blättern, schauen und lesen kann.

Man wandert dann von einem Bild zum anderen, gepackt von einer Art Neugier, die man gewöhnlich in Kunsträumen nicht empfindet. Man begegnet dem Fremden und dem Exotischen und findet sich dort  zurecht, denn in diesen Bildern spürt man gemeinsame Erfahrungen des Raums, der Zeit, der Gedanken und Gefühle. Man entdeckt Details, die man auch auf anderen Bildern wiederfindet. Ein Netz von Leitmotiven führt von einer Ausstellungswand zur anderen und aus einzelnen Bildern werden Bilderzählungen.

Irgendwann, aber eher zu Anfang dieser Bilder-Lektüre, bemerkt man, dass die Unterschriften etwas anders sind, als die gewohnten musealen Info-Etiketten. Es sind keine knappen, stichwortartigen Bezeichnungen, sonder narrative, kleine Texte, die von der Stilistik her an extrem komprimierte Reportagen, Erzählungen oder Gedichte erinnern; der Katalog-Teil, der alle dieser Unterschriften versammelt, liest sich wie eine Anthologie literarischer Mikrotexte. Die kompakten Aussagen führen wie Brücken zu den Bildern und manchmal auch darüber hinaus, in die Bereiche, die außerhalb der Fotos liegen.

Jetzt einige Beispiele - zwar werden sie ohne die dazugehörigen Bilder nur durch den Textteil vertreten,  aber auch so, glaube ich, lässt sich der Reichtum der Ausdrucksmöglichkeiten ahnen.

Wir sehen einen alten Mann, der ein gerahmtes Foto einer Frau hält und lesen dazu: „Ein alter Mann mit dem Bild seiner verstorbenen Frau macht den gemeinsamen Traum einer Reise nach Beijing war.“

„Eine junge Frau mit ihrem Kind auf dem Arm geht an Nonnen vorbei, die am Begräbnis eines Bischofs teilnehmen“. Wir sehen die Nonnen, wir sehen die Frau mit dem Kind, die am Betrachter vorbei geht. Die Geschichte, die man sich dazu erzählen könnte, findet außerhalb des Bilderrahmens statt.

„Die Verkäuferinnen in einem Toggery-Geschäft werden von einer Performance vor der Tür angezogen, steigen auf die Theke und schauen zu“. Die Performance sehen wir nicht, man müsste schließlich auf die Theke steigen.

„Müllsammler müssen eine Genehmigung kaufen“. Das haben wir nicht gewusst, die Sammler auf dem Foto sitzen müde auf dem Boden vor der Müllhalde

„Briefmarkensammler warten auf den Verkauf von Sondermarken“ und eine andere Bildunterschrift: „Einige Bauern leben von der Blutspende“. Auf keinem der beiden Fotos kann man erkennen, worauf die Menschen in der Schlange warten. Die Briefmarkensammler stehen jedoch entspannter - als die Blutspender - da.

„Heftiger Regen kündigt sich an. Ein tibetanisches Mädchen macht Kaugummiblasen und lehnt an einer Wand“. Diese Unterschrift ist wie ein Vers aus einem chinesischen Gedichtband. Das Mädchen, das links im Vordergrund steht, schaut uns an.

„Drei junge Leute warten am Flussufer auf das Schiff“. Auf dem Foto sieht man weder Schiff noch Fluss, es regnet, das Ufer ist ein steiler Felsen.

„Auswärtige ohne Pass für die Sonderwirtschaftszone in Hainan wurden interniert. Die glücklich entflohenen suchen hinter der Mauer nach Verwandten und Freunden“. Wie ein Standbild aus einer Reportage, man hat den Eindruck, das der Bericht gleich fortgesetzt geht.

„Anfang des neuen Jahres bleibt ein Traktor stehen, der an einer Festveranstaltung (Shehuo) teilnehmen sollte“. Der Text wirkt hier wie ein Kommentar zu einer Allegorie.

„Seit vielen Jahren füttert der Rentner die Seemöwen im Winter. Die Leute stellen ein Erinnerungsfoto des alten Mannes am See auf“. Eine Erzählung, oder ein Roman, wenn man will, in zwei Kapiteln.

Manche Unterschriften sind ganz sachlich, sie verdoppeln das Geschehen auf dem Foto und heben es dadurch rhetorisch auf.  Ich lese: „Menschen auf dem Weg zur Arbeit“, und dann, wenn ich das Bild sehe, passiert etwas Seltsames - sie gehen tatsächlich dicht an mir vorbei. Hunderte, Tausende, mit dem Blick zum Boden führen sie ihre Fahrräder. Wie wäre es wohl, wenn ich den Text nicht gelesen hätte?

„Zwei Mädchen lesen die Tafel einer Bettlerin“. Auch hier wirkt die Verdoppelung des Inhalts. Das Bild der beiden Mädchen vor einer gleichaltrigen Bettlerin prägt sich ein.

„Bauern strömen am Nationalfeiertag in die Stadt“. Eines der schönsten Bilder der Ausstellung: die Straße wie ein Flussbett, die Menschen wie ein Fluss und zwischen dem Himmel und der Menschenmenge vibrieren Blätter auf den Bäumen.

Eine lehrreiche Ausstellung, die nicht nur viel über China und Menschen erzählt, aber auch darüber, wie vielseitig das Spiel zwischen Wort und Bild sein kann

 

„Humanism in China. Ein fotografisches Portrait“, Staatsgalerie Stuttgart, 2006.
Texte aus dem Katalog „Humanism in China“, Edition Braus, Heidelberg

PS.
Man kann die Ausstellung aber auch ganz anders sehen. In der letzten Ausgabe von „Photonews“ beschreibt Peter Bialobrzeski die Stuttgarter Ausstellung und dabei auch das Foto mit der langen Unterschrift: „Ein altes Paar, das noch nie einen Zug gesehen hat, beim gemeinsamen Foto vor der Brücke über den Huanghe-Fluss“. („Walking on the Chinese Wall“, Photonews, Nr.12, Dezember 2006)
Für mich stellt das Bild zusammen mit dem Text eine Einheit dar. Ich überlege nicht, ob diese Einheit mit einer Theorie konform ist. Die Unterschrift ist da und bildet eine Bild-Text-Situation, die neue Bilder und Gedanken im Kopf hervorruft. Man müsste über das Bild etwas mehr erzählen, damit die Ausdrucksmöglichkeit dieser Situation deutlich wird. Das Paar sitzt, mit der Brücke im Hintergrund, auf einer Brüstung am Flussufer - oder wurde vielmehr darauf gesetzt - und bekommt noch die letzten Anweisungen von zwei „Fotobeauftragten“ - sind sie Verwandte, Assistenten des Fotografen oder Funktionäre, die ein Propaganda-Foto inszenieren? Das weiß man nicht, aber diese Überlegungen gehören zum Bild.
Für Bialobrzeski existiert diese Bild-Text-Situation nicht und er sucht im Bild vergeblich nach dem Zug, den das Paar zum ersten Mal im Leben gesehen hat. „Ohne die Bildzeile“, schreibt er, „bleibt das Angesehene bedeutungsfrei. Es handelt sich um Einzelbilder, die aus dem Zusammenhang gerissen und in ihrer schieren Fülle (600 Fotos) nicht mehr lesbar sind.“ Was heißt aber hier Lesbarkeit? Wäre das zitierte Foto lesbar, wenn der Zug da wäre? Steigt die Lesbarkeit eines Bildes, wenn man nicht mittels der Unterschriften auf eine fremde Hilfe angewiesen wäre? Und hängt die Lesbarkeit nicht auch vom Betrachter ab?
Die Tradition, die hinter der Bialobrzeskis Art der Bildbetrachtung steht, ist lang und mit prominenten Vertretern besetzt - auch Lessing mit seinem „Laokoon“ hat dazu beigetragen. Die Tradition besagt, dass das Bild ohne den Text (Literatur) auskommen muss, denn der Text sei ein Fremdkörper im Visuellen. Das Bild soll sich selbst erklären.
Ich finde es immer schade, wenn man dem Sehen der Bilder einen Rahmen aus Prinzipien setzt.

 

weitere Texte