Wojciech Sztaba
Tuschezeichnungen von HEIDI RIEHL
Eine Figur im Profil, oben schwarz, unten weiß, gezeichnet auf einem Blatt mit gedruckter Bücherliste mit verschiedenen Romanen; sie steht wie ein Zeichen, wie ein großes Komma in einem nur durch die Horizontlinie definierten Raum.
Heidi Riehl zeichnet auf kleinen Papierbögen, oft auf gefundenen Resten, abgerissen oder geschnitten, manchmal beschrieben oder bedruckt. Sie lassen sich nach Motiven einteilen – hier eine Landschaft, dort eine Stadt, eine Figur, eine Gruppe, Szenen, manchmal sind es Buchstaben oder buchstabenähnliche Zeichen – doch die Einordnung führt auf ausgetretene Pfade der Kunstgeschichte, lenkt die Aufmerksamkeit auf ansonsten interessante Vergleiche, auf historische Zusammenhänge, entfernt uns aber immer mehr von diesen kleinen, einzigartigen Zeichnungen, dieser Welt im Kleinen. Wichtiger ist hier eine andere Ordnung, die alles umfasst, sowohl das Ganze als auch die Fragmente und das, was sich dahinter verbirgt.
Es gibt wahrscheinlich so viele Arten der Ordnung, wie es individuelle Ansichten gibt. Für mich sind ihre Bilder eine Reihe Illustrationen für eine nicht endende Geschichte, vielleicht ein Tagebuch oder einen ständig aktualisierten Gedichtband. Wie Bücher aus alten Zeiten mit Schwarz-Weiß-Illustrationen, meist Holzschnitten, die Schlüsselszenen der Erzählung darstellen, manchmal mit Zitaten darunter. Sie waren bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, stellten alles und vielleicht sogar mehr dar, als sich der Leser aufgrund des Textes vorstellen konnte. Heidi Riehls Bilder hingegen lassen vieles ungesagt, bleiben mehrdeutig, sie suggerieren lediglich Geschichten, sie geben ihnen nur einen Anfang und warten sogar auf ihre Interpretation. Wir erraten versteckte Handlungen, genau wie wir beim Durchblättern eines Romans, den wir noch nicht gelesen haben, neugierig sind, was die Illustrationen bedeuten, auf die wir stoßen.
Auf diese Meta-Geschichte wurde ich durch eine Figur aufmerksam gemacht, die aus der Dunkelheit auftauchte und eine auf der Zeichnung unsichtbare Lichtquelle in der Hand hielt, oder eher, die Tür zu einem hell erleuchteten Raum öffnete.
Dann wurde ich von dem Bild eines Mannes angezogen, der an einem Fenster stand, vielleicht in einem Korridor in einem Zug, und in einen unendlichen Raum starrte. Was er sieht, taucht in anderen Zeichnungen auf – unterwegs gesehene Bilder. Für diese Zeichnung habe ich ein Gegenstück gefunden, diesmal im Hell: Eine Figur in Weiß steht in einem offenen Raum, lässig an die Mauer gelehnt, wahrscheinlich mit Blick nach unten, die Mauer muss hoch sein, man kann die Wipfel der Bäume dahinter sehen. Es gibt viele ähnliche Übereinstimmungen zwischen den Werken von Heidi Riehl, sie bestätigen, dass sie zu einer Kontinuität gehören.
Aus diesen Fragmenten, Fetzen von Geschichten in Schwarz, Grau und Weiß, entsteht ein düsteres Drama, dargestellt in wiederkehrenden Bildern – Klagelieder über Einsamkeit, Leere, Trauer und Ausweglosigkeit. Als Kulissen und zugleich als stummer Chor dienen Landschaften – Bäume und Haine, Dörfer, in Berge und Hügel eingebettete Häuser, manchmal Nahaufnahmen von Zweigen und Blumen, wie Silhouetten in einem Scherenschnitt. Auch die beobachtenden und kommentierenden Figuren gehören zum Chor auf der Bühne. Die extreme Spannung dieses Dramas wird durch die Intensität der Form und den beharrlichen Akt des Zeichnens zwar nicht gemildert, aber in gewissem Maße gelöst, wodurch so etwas wie die erwartete, ersehnte Katharsis der antiken Tragödie erreicht werden könnte.
Diese besonderen lyrischen Geschichten, die verschwinden und einen Schritt vor der Abstraktion wieder auftauchen, sind trotz ihrer Kargheit überraschend beredt. Wie kann Heidi Riehl es erreichen, dass diese auf einer leeren Bühne stehenden, gehenden, tanzenden Figuren, bloße Silhouetten, mit ein paar Strichen und Flecken dargestellte kalligrafische Zeichen, in mir so vollständige Bilder von Menschen, ihren Zuständen und Gefühlen hervorrufen? Ich denke, dass diese Striche, indem sie Details umgehen, das Zentrum der Empathie erreichen - mit einer inneren Berührung erkennen wir die Situationen, die in der Position dieser Körper im Bild festgehalten sind, und erleben ein erstaunliches Gefühl der Mitbeteiligung.
Vielleicht ist unter diesen Figuren auch die Erzählerin selbst und unter den Bildern sind ihre Erinnerungen. Aber es gibt auch Erinnerungen, die der Betrachter selbst aufruft und hinterlässt. Woher kommt diese sitzende Puppe im weiten Rock? Und die spielenden Kinder? Wer ist hier der Erzähler und wie wird eine Zeichnung überhaupt erzählt – in der ersten oder dritten Person? Ist der Erzähler nicht auch derjenige, der beobachtet und erzählt, was er sieht? Ich denke, dass die Erzählung eine zweiseitige Vereinbarung, eine Gemeinschaft, eine Partnerschaft zwischen dem Künstler und dem Betrachter ist, der das Text-Bild auf eigene Weise ergänzt.
Auf einem leeren Blatt Papier beschreiben zwei Linien perspektivisch eine Fläche, vielleicht eine Tischplatte. In der Ecke steht eine hüfthohe Figur, deren Gesicht, wie oft in diesen Zeichnungen, nur durch ihre Haare allein definiert ist; sie breitet ihre Hände aus, als würde sie Maß nehmen und den markierten, leeren Raum in Besitz nehmen: „Das ist alles.“
Die Figur einer Frau schreitet in einer Tanzbewegung vorwärts. Mit jedem Schritt bringt das Eindringen in die Dunkelheit Licht zum Vorschein, die Nacht wird zum Tag.
Der Blick durch das Fenster oder durch ein Gartenspalier, an dem Reste vertrockneter Weinreben hängen, mit einer Baumreihe am Horizont. Oder sind es dunkle, stürmische Wolken? – die Zeichnung hat zwei Richtungen, sie ist zweimal signiert, oben und unten.
Zwei Zeichnungen, fast identisch, auf beiden eine Figur mit spitzem Hut, auf der einen steht sie, auf der anderen sitzt sie im hohen Gras. Über ihr hängen Äste. Ein kurzer Moment trennt eine Zeichnung von der anderen, in der ersten sind das Gras und die Zweige mit einer dicken Linie gezeichnet, in der zweiten ist die Zeichnung zarter, mit mehr Details. Die sitzende Figur findet sich auch in einer dritten Zeichnung, vorne gehen zwei Figuren in einem Hain spazieren. Die Szene ist in einen goldenen Glanz getaucht. Wie viele andere Zeichnungen von Heidi Riehl zeugt auch diese Sequenz von der Affinität der Künstlerin zu den Zeichnungen chinesischer und japanischer Maler, zur Kalligrafie, zur Kürze, zum Verhältnis von Bild und Schrift und zur Art und Weise, wie solche Zeichnungen die menschliche Figur in die Natur setzten.
Ein Dach, dahinter hohe Berge, über ihnen die orangefarbene Sonne. Sie werden von einem zarten, kalligrafischen „Regen“ aus Zeichen verdeckt, die auf die karge Landschaft fallen.
Eine weitere Zeichnung mit einer Inschrift, die sich hinter der Silhouette der Berge versteckt; hier bilden die Zeichen eine Buchstabenfolge, es scheint, als könnten sie gelesen werden. Unten, am Rand des Blattes, taucht ein Gesicht im Profil auf, ein Passant, der bald auf die andere Seite gehen und die Zeichnung verlassen wird.
Eine Figur mit einem lustigen Hut betrachtet zwei Gemälde, die durch eine von oben fließende kalligrafische Inschrift und eine schwarze Zone in der Mitte von ihnen getrennt sind. Die untereinander platzierten Gemälde ähneln großformatigen Kompositionen, die einst von Heidi Riehl auf Leinwand gemalt wurden. Ein weiteres Bild-im-Bild zeigt einen auf einem Paravent gemalten Baum.
Eine Figur im Profil, oben schwarz, unten weiß, gezeichnet auf einem Blatt mit gedruckter Bücherliste mit verschiedenen Romanen; sie steht wie ein Zeichen, wie ein großes Komma in einem nur durch die Horizontlinie definierten Raum.
Eine Figur kauert am Meeresufer zwischen großen Felsen; sie selbst sieht wie ein Felsen aus und sammelt Muscheln: die Figur der Künstlerin und Sammlerin, die aufmerksam die kleinen Bausteine des Mikrokosmos beobachtet. In einer anderen Zeichnung sitzt sie am Ufer und zeichnet auf einem Blatt Papier vermutlich das, was auch wir sehen können: Wasser, Berge, Wolken. Die Szene erinnert an das romantische Motiv – eine Figur vor einem gewaltigen und unbegreiflichen Naturereignis, ein Sinnbild der Erhabenheit. Diese Zeichnung ist, wie sonst selten, in Farbe.
Heidi Riehl, Tuschezeichnungen, Frankfurt am Main 2024
Heidi Riehl, geboren 1945 in Teplitz.
Studium: 1973 - 1978 an der Städelschule Frankfurt am Main.
Ausstellungen in: Frankfurt/M., Wiesbaden, Offenbach, München, Worms und Athen.