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Marcel Duchamp. 100 Fragen. 100 Antworten

Staatsgalerie Stuttgart, 23.11.2018 - 10.3.2019
von Wojciech Sztaba

 

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Damals, vor 40-50 Jahren, war für uns die Begegnung mit Werken von Marcel Duchamp eine Befreiung. Seine Ironie, sein Witz halfen uns dem Stumpfsinn des herrschenden Kunstsystems zu entkommen, man wagte sich in neue Bereiche, ohne zu überlegen, ob das alles Kunst sei. Es war auch die Zeit, in der man sagte: Wozu braucht man eigentlich ein Bild zu Hause?

Heute ist er ein Klassiker, sein Werk wird seit Jahren gründlich erforscht - beschrieben, entschlüsselt und dokumentiert, das Subversive im historischen Kontext erklärt und die Definition des Readymades für den Schnellgebrauch zugeschnitten. Ich erinnere mich an eine Kunstpädagogin, die mit Grundschulkindern die schönen Formen des "zum Kunstwerk gehobenen" Pissoirs bewunderte.

Kann eine Ausstellung die damalige Kraft dieser Werke retten? Oder etwas Neues entdecken?

Die Kuratorin der aktuellen Stuttgarter Ausstellung, Susanne M.I. Kaufmann, versucht es mit einem interessanten Kunstgriff: Sie inszeniert Duchamps Kunst im Kontext der duchampologischen Untersuchungen, wie man dieses umfangreiche Forschungsfeld nennen könnte. Hier vertritt die Duchampologie der schweizerische Forscher und Künstler, Serge Stauffer (1929 - 1989), der sich jahrzehntelang mit Duchamp befasste. Stauffer agiert als zweiter Protagonist der Ausstellung in der Rolle des Vermittlers: Er thematisiert durch Dokumente, Notizen, Karteikarten und eigene künstlerische Arbeit das Konzeptuelle in Duchamps Werk (nicht fürs Auge sondern für den Verstand, wie Duchamp sagte) und reicht uns eine eigentlich einfache Methode des möglichen Zugangs: schauen und immer wieder fragen. Das Publikum wird angeregt, die Ausstellung, ihre Objekte und ihre Ordnung als ein Spielfeld zu betreten, Geschichten ergänzen, erfinden, weitererzählen, nach Zusammenhängen suchen.

Es fängt mit einem Prolog im Foyer an, wo zwei große Tafeln den Titel und die Spielregel der Ausstellung erklären. Sogar in Museums WCs werden Besucher durch Inschriften in Instagram-Look auf den Spiegeln angesprochen: #AreYouReadyForDuchamp. Am Eingang - eine riesengroße Reproduktion des kleinen Fenstermodells, des bekanntesten Objekts aus der Stuttgarter Sammlung: "La Bagarre d'Austerlitz". Die Innenseite des Fensters sehen wir nach dem Eintreten in die Ausstellung. Rechts finden wir einen kleinen Wandbehälter für Postkarten, nach deren Form die Tafeln im Foyer gestaltet wurden. Die vom Klassiker der Konzeptkunst, Joseph Kosuth, gestalteten 100 Postkarten mit Fragen und Antworten bilden eine Art Leitfaden dieser mehrstimmig angelegten Inszenierung von Objekten, Bildern, Artefakten und Dokumenten in Begleitung der Stimmen von Duchamp und seiner Interpreten. Der große Raum wird durch Wände, Durchgänge und Vitrinen geteilt in ein labyrinthisches, begehbares Kunstwerk, in eine simultane Theaterbühne mit großen und kleinen Stationen. Die Nummern auf den Postkarten geben dem Rundgang die Richtung.

Das Thema der ersten Station, die Einführung, übernimmt Serge Stauffer: Ein Karteikasten aus seiner Dokumentation zu Leben und Werk Marcel Duchamps steht auf einem Podest vor zwei Wänden, wo dicht aneinander Bilderrahmen mit Karteikarten hängen, wie eine Kunstpräsentation: die Forschung, sagte Stauffer, das ist im Wesen meine Kunst. Außerdem zeigt die Ausstellung auch seine Fotografien von "Readymades", die er unterwegs gesehen hatte.

Rechts vom Eingang sehen wir das Werk Stauffers, das auch die Idee und den Titel für die Ausstellung lieferte: Die Blätter mit 100 Fragen, die er im Juli 1960 an Duchamp schickte, und darauf 100 Antworten bekam. Die Fragebögen halten den Dialog zwischen zwei Künstlern fest. Der Junge stellt die Fragen in Maschinenschrift, er will alles erfahren, was ihm noch zu dem Wissen über die Werke des Alten fehlt, der antwortet in Bleistift, fasst sich kurz (denn auf dem Blatt gibt es nicht viel Platz), korrigiert die Fakten, ergänzt die Datierungen. Aber schon die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Schreibweisen bringt eine fast poetische Note in diesen Fragebogen. Die Deutlichkeit der Maschinenschrift und die Leichtigkeit der Handschrift, in jeder verbirgt sich eine andere Zeit, andere Töne, Geräusche. Ab und zu erscheint etwas unausgesprochenes zwischen den getippten und handgeschrieben Zeilen, die delikate Materie der Kunst scheint durch, die Sachlichkeit wird gelockert. Ist das Große Glas, fragt Stauffer, wirklich unvollendet? - Er habe keine Lust mehr gehabt, schreibt der Künstler. Es ist keine "brauchbare" wissenschaftliche Beschreibung, aber diese unscharfe Erklärung bedeutet doch etwas Wichtiges: dass dem Künstler das Gefühl des Geistesblitzes fehlt, und deswegen das Spiel mit Formen und Ideen keinen Sinn mehr hatte.

Diese erste Station eröffnet das Thema des Geistigen, aber auch des Unerklärbaren im Duchamps Werk, sie bereitet uns auf das Entziffern von Bedeutungen vor, auf Wortspiele, auf eine Kunstbetrachtung, die eine intellektuelle Beschäftigung ist und bei der man auch große Freude und Vergnügen empfinden kann. Es erwarten uns hier nicht nur Objekte und Bilder, aber auch Notizen, Skizzen, Fotos, Kommentare, die Duchamp seinen Werken zufügte. Dieses Gewebe aus Materiellem und Gedachtem bildet einen eigenartigen Kunst-Kosmos von Bildern und Erzählungen, wo auch ein beschriebener Fetzen Papier sein Platz hat. Auf der Karte Nr. 39 lesen wir: Dies ist die Richtung, welche die Kunst einschlagen sollte: mehr hin zu einem intellektuellen Ausdruck als zu einem tierischen Ausdruck. Ich bin angewidert von der Bezeichnung bête comme un peintre - dumm wie ein Maler.

Weiter geht es in die Station mit Spuren seiner Anwesenheit in der Kunstwelt - Katalogen, Drucksachen und Ausstellungsplakaten. Brian O´Doherty dokumentierte seine physische Anwesenheit in einem Portrait of Marcel Duchamp, das das Herzschlag des Künstlers wiedergibt. Ein Foto von Serge Stauffer aus dem Friedhof in Rouen zeigt die Inschrift auf der Grabplatte, mit einem Zitat von Montaigne: "Übrigens sterben immer die anderen" Marcel Duchamp 1887-1968. Das Thema der An- und Abwesenheit des Künstlers endet mit einer großen Wandprojektion eines Interviews: wir sehen Großaufnahmen von seinem Gesicht, aber wir hören nicht, was er sagt, kein Kommentar.

An diesem stummen Porträt vorbei betreten wir die Station mit Readymades und anderen geheimnisvollen Objekten. Die Schlüsselrolle in der Inszenierung spielt hier der Schatten des unter der Decke schwebenden Flaschentrockners. Die Postkarte 24 informiert, dass nach Duchamp unsere alltäglichen Gegenstände Schatten der vierten Dimension seien. In dieser Gleichung der Dimensionen gehört die Kunst zu der Vierten, sie drückt das Unaussprechliche aus. Bei dem Schatten-Bild und dem zu ihm gehörenden Kommentar sollten wir ein Moment innehalten und das Wissen über diese Objekte hinterfragen. Ein Readymade ist nicht nur ein Witz, auf keinen Fall eine Anweisung, wie man der Realität einen Stempel der Kunst gibt, es ist wie ein Sprung vom Banalen, wie Flaschentrockner, ins Metaphysische. Was, natürlich, nur eine mögliche Lesart von Readymades darstellt, die immer wieder neue Aspekte und Erzählungen generieren.

Dank einer der 100 Fragen von Serge Stauffer werden wir auf einen von Duchamp verwendeten Begriff aufmerksam: das ästhetische Echo, eine akustische Entsprechung des Schatten-Bildes. Gefragt nach der Definition, antwortet Duchamp: Gewisse Individuen sind imstande, das Echo zu hören, das das gute Kunstwerk aussendet (...) dieses Echo hat natürlich nichts zu tun mit dem durchschnittlichen oder gar raffinierten Geschmack jeder Zeitepoche.

Ein Readymade, oder sein Schatten-Bild, leitet das Gesehene zum Denken weiter, initiiert ein Spiel mit Kontexten, mit Verschieben der Bedeutungen. Diese Objekte leben nur eingebettet in Texte. Manchmal gibt es verschiedene Erzählungen, die dasselbe Objekt erklären und sich in einer Weise ergänzen, wie die zwei im Katalog der Ausstellung vorgeführten Interpretationen des Fenstermodels, La Bagarre d'Austerlitz.

Noch deutlicher ist diese Einbettung der Bilder in Erzählungen und Kommentare in den nächsten Station der Ausstellung. In der Mitte wird das Hauptwerk Duchamps inszeniert, das Große Glas, hier durch eine Kopie aus Stockholm vertretend. Das Werk umgeben Autokommentare, Skizzen, Fotos und Notizen, Blätter und Schnipsel, auch Bilder, die den Künstler beeinflusst haben, gesammelt in Schachteln-Editionen, ausgelegt in Vitrinen; eine Stimme aus dem Lautsprecher liest Fragmente vor, was den Texten eine zusätzliche, theatralische Note verleiht.

Von Anfang an wollte Duchamp sein Glas-Projekt mit Texten ergänzen. Und dieses Album wollte ich dann dem Glas beigesellen, man sollte es beim Betrachten des Glases konsultieren können, weil diese nicht einfach, im ästhetischen Sinn des Wortes, 'angeschaut' werden sollte. Das Buch gehörte dazu, man sollte beides gleichzeitig vor Augen haben. Die in den Schachteln gesammelten Notizen vermitteln die Idee dieses nicht realisierten Projekts.

Auf der Postkarte 46 lesen wir ein interessantes Hinweis Duchamps zu diesem Handbuch zum Glas: ähnlich dem Katalog von Saint-Étienne wollte ich Berechnungen und Gedanken ohne jeden Zusammenhang vereinen. Was für ein Katalog es war, steht auf der Postkarte nicht. Ich habe ihn schnell im Internet gefunden. Zuerst war es ein Warenkatalog von Schusswaffen für Militär und Jäger, später kamen noch Fahrräder dazu, und schließlich wurde es zum Versandkatalog allerlei Artikeln, wie der von Ottoversand. Umschläge der ersten Hefte (bis 1898) zeigten ein zweigeteiltes Bild mit Kanonenrohren und drei zusammen gestellten Gewähren mit Bajonetten, die nach oben reichen. Im oberen Teil sieht man Zielscheiben mit Einschüssen, Kreise mit Strahlen und ganz oben den bogenartigen Titel. Einen ähnlichen Bildaufbau und Motive finden wir auch in der Komposition des Glases.


Manufacture française d'armes St. Étienne. Titelblatt des Katalogs 1889. Auf der Webseite: Manufrance son histoire, ses catalogues ses objets chasse

Die erste Frage, die Serge Stauffer in seinem Fragebogen Duchamp stellt, bringt uns auf die Spur der wichtigen Inspiration für Duchamp, auf die Romane von Raymond Roussel: Zu welcher Zeit haben Sie Kenntnis von "Locus Solus", das 1914 erschienen ist? 1914 oder 1915, antwortet Duchamp. Meiner Meinung nach, wichtig ist auch ein anderer Roman und seine Theaterinszenierung, die Duchamp 1912 gesehen hat: Impressions d'Afrique. Roussel - sagte Duchamp - war fundamental wichtig für mein großes Glas, "La Mariée mise à nu par ses célibataires, même". In seinen "Eindrücke aus Afrika" fand ich den Kniff, wie ich vorgehen musste. Was war das für ein "Kniff"? Bestimmt beeindruckten ihn sehr die von Roussel erfundenen Themen und Bildern. Diese Romane erinnern an Kunst- und Wunderkammern, an Sammlungen von verrückten Geschichten, bizarren Helden und skurrilen Maschinen. Aber, einzeln genommen, lieferten sie noch keinen Kniff, nur Motive. Wichtiger, glaube ich, ist die Erzählstrategie von Roussel, die etwas an Führungen durch die alten Kuriositätenkabinette erinnert. Es gab dort seltsame Objekte, man wusste zuerst nicht, wozu sie dienen, wie und warum sie funktionieren. Erst später kam die Erzählung über das Gesehene, das Geheimnis wurde erklärt, was aber das Wunder noch unglaublicher, noch traumhafter machte. Die Erklärung hebt das Objekt auf eine neue, genauso phantastische Ebene. Dieser Kniff kommt aus der Schublade mit der alten Kunst, wo Bilder mit Literatur vermischt wurden. Man nannte es concetto - die Idee, die Erfindung, die das Werk belebt, für Überraschung sorgt, für Vergnügen beim Verstehen, beim Dahinterkommen. Dieses Spiel zwischen dem Künstler und seinem Publikum hieß in den damaligen Systemen der Poetik - argutezza. Die vielen Ebenen und Verbindungen von Bildern, Objekten und Kommentaren, die sich nacheinander entfalten, finden wir auch bei Duchamp.

Es geht dann in der Ausstellung weiter durch die nächsten Stationen. In der ersten sehen wir zarte, fast immaterielle erotische Radierungen und einen Kasten mit Objekten, die man durch peep holes, wie durch Schlüsselloch, beobachten kann: Ein Pendant zum Großen Glas und eine Anspielung an das nächste große Projekt, Gegeben sei: 1. der Wasserfall 2. das Leuchtgas. Diese Station macht deutlich, dass das Hauptthema der Kunst von Duchamp eben Sex ist.

In anderer Station werden optische Spiele mit rotierenden Scheiben demonstriert ("am besten, ein Auge zu machen" wie die Kuratorin sagt, eine Methode übrigens, die beim Betrachten alter Bildern auch den Guckkasten-Effekt steigert). Und am Ende des Rundgangs erwartet uns eine Zugabe: alles noch einmal, nur winzig klein, wie für ein Puppenhaus geschaffen - das Museum im Koffer.

Die letzte Postkarte mit der Nummer 100 ist eine Aufforderung: Sind bei Ihnen auch nach 99 Antworten noch Fragen offen? Dann notieren Sie diese im nächsten Raum gerne auf Ihre eigene Postkarte. Das wäre also der Epilog der Ausstellung. Fragen stellen heißt, dass der Zuschauer auch zum Forscher wird, auch wenn er nur etwas Kleines für sich entdeckt. Nachschlagen kann er immer im Katalog - der Fortsetzung der Ausstellung im Buchform.

  Dezember 2018
 
  s. auch: W. Sztaba, Herrn Gutekunsts Notizen über den alltäglichen Gebrauch von Bildern und anderen Erscheinungen, Heft II
   
 

Staatsgalerie Stuttgart, Sammlung digital:

Alle eigenen Exponate der Ausstellung »Marcel Duchamp. 100 Fragen. 100 Antworten«, 108 Objekte digitalisiert
Stand 21.12.2018